Wir Kinder der Unendlichkeit

                Leseproben aus „Wir Kinder der Unendlichkeit“ – erscheint im Herbst 2024 im Chalice Verlag / Xanten

 

 

 

Frühlingstag

Wie sehr doch jeder Frühlingstag

erinnert an des Weltenmorgens Stund´,

als Schöpfung – jung und hold – da lag,

nur Gottes mildem Blick entblößt

und Nachtlichts blassem Rund.

Laterna magica

Du, Herr, lässt meine Leuchte erstrahlen, mein Gott macht meine Finsternis hell. Psalm 18,29

11. November. Bei einem späten Bummel durch seine beschauliche heimatliche Stadt ist er unversehens in einen Lichterumzug geraten. Natürlich: Heute ist ja Sankt-Martinstag! Eine Prozession von Eltern mit ihren Kindern, die in behandschuhten kleinen Fäusten selbst gebastelte Laternen vor sich hertragen wie eine kostbare Monstranz, wälzt sich als träger, leuchtender Strom durch die engen mittelalterlichen Gassen. Vorneweg ein heiliger Martin hoch zu Ross, in hellrotem Umhang und mit einem silbern schimmernden Schwert. Die Laternen der Kinder sind nicht von flackernden Kerzenstummeln erhellt, die beim geringsten Lüftchen verlöschen und jedes Mal wieder angezündet werden müssen, wie in seiner Kindheit, sondern von zuverlässig brennenden LEDs. Das Lied jedoch, das die Kinder singen, ist nach all den Jahrzehnten, die seither vergangen sind, noch immer dasselbe und steigt, von dampfenden Atemwölkchen umhüllt, in der frostigen Abendluft himmelwärts: „Ich geh mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir. Da oben leuchten die Sterne und unten da leuchten wir. Mein Licht ist aus, ich geh nach Haus, rabimmel, rabammel, rabumm!“

So ist er für eine Weile stehen geblieben, um etwas wehmütig dem Treiben zuzusehen und die Bilder von heute mit seinen inneren Bildern von damals abzugleichen. Als die letzten Nachzügler dahintröpfeln, geht auch er nach Hause, wo er es sich nun in seinem Lieblingssessel gemütlich macht und weiter seinen Erinnerungen nachhängt. Dabei fällt ihm wieder ein, mit welcher Hingabe und Vorfreude er selbst als Kind jedes Jahr im November eine Laterne gebastelt hatte: seine eigene Laterne für den Sankt-Martins-Umzug. Und wie er an dem Tag selbst kaum abwarten konnte, dass es endlich dunkelte und die Mutter mit ihm zum Umzug aufbrach. Die Stunden des Wartens fast wie an Heiligabend so zäh und lang. Aber dann diese Faszination, wenn die kleine goldene Bienenwachskerze angezündet wurde und seine Laterne im Dunkeln zu strahlen begann.

Als er seine Erinnerung so schweifen lässt, kommt ihm plötzlich in den Sinn, dass er doch eigentlich in seinem ganzen bisherigen Leben auch nichts anderes getan habe, als eine Laterne zu fertigen. Eine unvergleichlich größere freilich – eine Art „Laterne des Lebens“: eine Laterne als Herberge für das innere Licht. Denn ist es nicht so, dass man mit allem, was im Leben geschieht, Formen über Formen, Geschichten über Geschichten aus dem anfangs undurchlässigen Unbewussten herausschneidet wie aus einem dichten schwarzen Karton? Weil der Mensch doch aus jeder Erfahrung lernt, zumindest aus jeder, deren Sinn er versteht. Und damit Öffnungen schafft, durch die Licht fallen kann – das Licht zunehmenden Erkennens. Denn ohne Öffnung kein Licht, ohne Licht keine Erlösung! Und wenn er von irgendetwas überzeugt ist, dann von dieser stufenweisen Offenbarung des göttlichen Lichts hier, in dieser irdischen Welt – allem äußeren, oft so wiedersprechenden Anschein zum Trotz! Und dass dieses Licht irgendwann in jedem Menschen entflammt, der transparent genug und damit empfänglich dafür geworden ist.

Und in einer Flut vorüberziehender innerer Bilder sieht er sich jetzt wie im Zeitraffer noch einmal diese Laterne des Lebens basteln. Mit dem Herausschneiden der Formen aus schwarzem Grund fängt er vorsichtig an. Ein wenig unbeholfen noch und eher grob, so wie ein Kind. Auch wählt er zunächst nur die vertrauten, schlichten Motive, mit denen auch Kinder ihre Laternen schmücken: die Sonne, den Mond und die Sterne, eine einzelne Wolke, die überdimensioniert und dennoch etwas verloren dazwischen hängt, darunter ein Haus, ein Mensch und ein Baum. Aber dann, im Laufe des Tuns, wird seine Arbeit feiner, umfassender und er immer mutiger. Er sieht sich selber schneiden, immer mehr Geschichten und Bilder heraus aus dem Karton, tatsächlich nicht weniger als sein ganzes Leben.

Und so schneidet und schneidet er, immer drängender, immer tiefer hinein in das Schwarz und Szenen heraus aus den eigenen noch unbewussten Schichten. Jeder Schnitt Wonne und Schmerz zugleich, und er schneidet bis an die Grenze des Erträglichen, inzwischen fast wie im Rausch: Berichte von Hölle und Himmel, die auf dem Grund seiner Seele gelagert hatten wie ein uralter zäher Morast, der im Vorgang des Schnippelns in unzähligen schwarzen Fetzen nun von ihm fließt. Alles fließt dahin: Was er erlebt hat, was Menschen erleben, und alles, was Menschen im Guten wie im Bösen einander tun. Es ist schon längst nicht mehr nur sein eigenes Leben, das er erzählt, sondern die Geschichte des Menschen an sich. Weil es in Wirklichkeit doch nur einen einzigen, nämlich den MENSCHEN gibt, von dem er selbst ein Glied und doch zugleich auch das Ganze ist, wie jeder andere auch.

Und so wächst und wächst seine Laterne in ihren Dimensionen. Manchmal scheint es ihm gar, als würde jemand anderes seine Schere führen, die Themen vorgeben – EINER, der unvergleichlich größer und weiser ist als er. Die Seiten der Laterne ähneln allmählich üppigen Fresken an endlosen Wänden, die eine ebenso unendliche Geschichte ziert. Auch sind sie in ihrer sich ständig mehrenden Zahl nicht mehr rechteckig wie zu Beginn, sondern jetzt sechseckige Waben, die sich nahtlos aneinanderschmiegen und seiner Laterne dadurch eine außerordentliche Stabilität verleihen: einem monströsen runden Insektenauge gleich oder wie unzählbare Waben in einem riesigen summenden Bienenstock. Jede Wabe eine Geschichte, und mit jeder Geschichte Jahrhunderte und Jahrtausende ebenso nahtlos aneinandergefügt.

Sie zeigen Menschen, die sich durch die Zeiten wälzen, in einem unablässigen Strom von wechselnden und den doch immer gleichen Leibern. Gesichter mit aufgerissenen Mündern, wie auf dem Gemälde „Der Schrei“ von Edvard Munch; vor Entsetzen verzerrt, aber auch vor Lust. Seine Laterne erzählt, wie Menschen rauben, betrügen, morden. Er selbst – Täter wie Opfer – mitten darin; gefangen in einem Sog von Ohnmacht, Schuld und Vergeltung und tiefer Lebensangst.

Aber je offener und löchriger seine Laterne wird, umso freier und heller wird es auch in ihm. Und es finden sich in seinen erzählenden Bildern jetzt immer mehr das Gute und das Schöne ein: hier eine zärtliche Geste, dort ein aufrichtendes liebevolles Wort. Menschen, die über sich hinauswachsen, sich anderen hingeben, von einer Liebe getragen, die schließlich das Menschsein übersteigt. Und dann – in einem letzten Bild ganz zum Schluss – lässt er seine Laterne noch von dem Wunder berichten, wenn die Seele des Menschen, wie eine Blume am Baum des Lebens, im Licht dieser Liebe erwacht und seine verborgene Göttlichkeit entfacht.

Als er fertig ist mit dem Herausschneiden aus dem schwarzen Karton, der inzwischen einer feinen Brüsseler Spitze gleicht, da beginnt er, sämtliche Öffnungen mit buntem transparentem Papier zu bekleben. Je nach Szene mit fröhlich-hellen oder dunkleren, gedeckten Farben. Von dem ursprünglich so unbewussten, undurchlässigen Schwarz sind nur noch hauchdünne Stege übriggeblieben, sodass sich der Klebstoff nur ganz vorsichtig mit einer Nadelspitze auftragen lässt. Seine Laterne ist jetzt nicht nur von tausenderlei Öffnungen und Geschichten, sondern von ebenso vielen Farben durchsetzt.

Und dann kommt auch hier der feierliche Augenblick, in dem die Flamme in der Mitte zündet und die mächtige Laterne zu leuchten beginnt. Alle in sie hineingeschnittenen Geschichten projizieren sich nun hinaus in die Welt, auf die Leinwand von Zeit und Raum. Wie die Bilder eines schier unerschöpflichen Kaleidoskops huschen die Szenen vorüber, geht eine in die nächste über, ineinander stürzend und sind doch nicht mehr als nur ein Traum: vergänglicher Schein. Und es ist, wie er jetzt staunend erkennt, gerade das Zusammenspiel von Hell und Dunkel, von Glück und Leid, das seine Laterne so einzigartig macht und im aufstrahlenden Licht nun zu einem vollendeten Ganzen verschmelzen lässt, als habe sich mit dem Licht eine alles versöhnende Liebe auf die Bilder und Szenen gesenkt – seine Laterne des Lebens ein filigranes Kunstwerk der Transparenz.

Alles ist jetzt vergeben, vergessen, geheilt. Da ist nur noch Frieden und selbst aus dem Dunkeln strömt Licht. „Da oben leuchten die Sterne“ und unten, da leuchtet nun er. Und alles, wahrlich alles – so wird ihm bewusst -, was er jemals erlebt und erlitten hat, was Menschen erleben und erleiden, ist es wert, gelebt zu werden, wenn es zum Schluss nur in dieses strahlende Licht der erlösenden Liebe mündet. Denn die Liebe, das begreift er jetzt, ist der Urgrund allen Lebens, ist das, was ewig-golden selbst noch hinter der schwärzesten Finsternis wohnt. Erst LIEBE ist LEBEN, alles andere ist nur ein Traum.

Aber was ist das? Verwirrt betrachtet er die äußeren Umrisse seiner Laterne. Er ist sich doch so sicher gewesen, ein perfektes Rund gestaltet zu haben! So schön und prall und makellos wie eine verwirklichte Seele selbst! Aber dieses Rund hat sich nun, zu seinem Erschrecken und ganz von allein, verformt: Oben ist es von einer Kerbe leicht eingedrückt, und das, was sich oben eingedellt hat, drückt sich unten spitz heraus. Die Laterne scheint dadurch wie aus zwei aneinandergeschmiegten Hälften zu bestehen, die sich am unteren Ende, in dieser Spitze wieder vereinen. – Und da, als er dieses eigenartige Gebilde sprachlos und still auf sich wirken lässt, erkennt er: Diese wundersame Laterne, diese Laterna magica, ist sein eigenes HERZ!

Wie schade um die schöne Reise!

Wie schade um die schöne Reise!

Diese Welt ist eine Brücke – geh hinüber, aber baue kein Haus darauf. (Jesus von Nazareth, Inschrift am Buland Darwaza, dem größten Torbau Indiens)

Warum sind wir eigentlich hier – hier, auf dieser Erde? Auf diese Frage hat wahrscheinlich jeder seine eigene Antwort oder vielleicht auch gleich mehrere. Schlussendlich gibt es jedoch nur eine: um zu unserer Göttlichkeit zu erwachen! Aber wir haben, seitdem wir uns auf diesem Planeten befinden, so manches vergessen und leider auch dies. Obwohl doch das Erwachen unser Auftrag war, man könnte sogar behaupten: die einzige Rechtfertigung für unseren hiesigen Aufenthalt. Stattdessen richten wir uns auf der Erde mehr oder weniger gemütlich ein und verbringen unser Leben damit, einem Optimum an Wohlbehagen und Glück nachzujagen. Was jedoch zumeist nicht gelingt, und wenn es gelingt, dann nicht hält.

Wir sind wie Reisende, die vorhaben, eine große Fahrt anzutreten und sich zu diesem Zweck zu einem Bahnhof begeben. Über die Reise selbst wissen wir nicht viel, nur dass sie außergewöhnlich sein soll, das größte dem Menschen mögliche Abenteuer, eine wahre „Morgenlandfahrt“. Denn ihr Ziel ist ein noch unbekanntes, geheimes Land, ein sagenumwobenes Reich, von dem man munkelt, dass dort Milch und Honig fließen. Es handelt sich um jene Reise, auf die jeder Mensch sich irgendwann begibt und die ihn – durch alle äußeren Stationen seines Lebens hindurch – in sein Seelen-Inneres führen wird, mit anderen Worten: nach Hause.

Am Bahnhof angekommen stellen wir jedoch fest, dass unser Zug noch nicht da ist. Eine konkrete Abfahrtzeit wurde uns allerdings auch nicht genannt, sodass wir beschließen, uns noch ein wenig umzusehen. Das bisschen Gepäck, das wir dabeihaben, ist zwar nicht schwer, aber doch lästig herumzutragen, weshalb wir es in einem Schließfach verstauen und den silbern schimmernden Schlüssel in unsere Hosentasche gleiten lassen.

Daraufhin begeben wir uns freudig auf Entdeckungstour, um uns die Zeit bis zur Abfahrt zu vertreiben. Denn der Bahnhof sieht einfach zu verlockend aus! Er scheint riesig zu sein, mit unzähligen Hallen, die ineinander übergehen und alles bieten, was das Herz begehrt: Cafés, Restaurants, Geschäfte jeglicher Art. Kinos, Theater, Museen, diverse Sportstudios und Wellness-Oasen und natürlich Hotels aller Kategorien. Obendrein eine Bibliothek solchen Umfangs, dass sie das Wissen der ganzen Welt in sich zu bergen scheint. Kurzum: Dieser Bahnhof ist die reinste Fundgrube! Und das wollen wir uns doch nicht entgehen lassen und so tauchen wir in seine kunterbunte Vielfalt ein.

Auf unserer Reise nämlich, so viel ist uns zumindest bekannt, werden wir all das hinter uns lassen müssen. Nichts von dem all diesem Weltlichen nimmt man nach dorthin mit, man geht mit „leeren Taschen“, nackt wie ein neugeborenes Kind. Nicht, dass uns am Zielort etwas Schlechteres erwarten würde. Nein, ganz und gar nicht! Nur anders wird es sein, sehr anders; aber das ist auch schon alles, was wir darüber wissen.

Und so kommt es, wie es kommen muss: Während wir neugierig schlendern und bummeln, entwickelt der Bahnhof den ihm eigenen Sog. Wir pilgern von Café zu Café, in denen es die köstlichsten Torten zu bestaunen und zu genießen gibt. Gesättigt beschließen wir, in einem der Kinos ein wenig abzuhängen und uns einen Film anzusehen, für den eine schillernde Leuchtreklame wirbt. Vielleicht besuchen wir danach noch eines der Museen oder stöbern in der riesigen Bibliothek, um uns, wenn sich schon die Gelegenheit dazu bietet, doch gleich ein wenig zu bilden. Erneut hungrig geworden, suchen wir eines der zahlreichen Restaurants auf, wo wir uns an einem – selbstverständlich mehrgängigen – Menü gütlich tun. Ein Gläschen Wein dazu muss sein, wodurch wir wohlig müde werden und uns für die Nacht in einem der Hotels einquartieren. Am nächsten Morgen nehmen wir unseren Bummel wieder auf, wobei die Erinnerung daran, was wir am Bahnhof eigentlich wollten, mit jedem weiteren Tag ein bisschen mehr verblasst.

Wir lassen uns treiben, der Strudel dieses heimtückischen Ortes hat uns längst im Griff: Die Speisekarte eines jeden Restaurants kündigt für den nächsten Tag ein noch ausgefalleneres Menü an, jeder Abspann des einen Films, den wir gerade sahen, wirbt für den nächsten, den man auch unbedingt gesehen haben muss. Und natürlich lernen wir auf unserem Streifzug andere Menschen kennen, schließen Freundschaften, gehen Liebschaften ein, beginnen, einer Arbeit nachzugehen und sonstigen Aktivitäten, die das ausmachen, was wir inzwischen unser „Leben“ nennen. Weil wir zu diesem Zeitpunkt den Ort, an dem wir uns befinden, gar nicht mehr als Bahnhof erkennen, geschweige denn, uns daran erinnern, dass wir ihn doch nur aus einem einzigen Grund aufsuchten: um von dort aus weiterzureisen. Anfangs meinen wir hin und wieder noch, eine mahnende Stimme aus unserem Innern zu vernehmen. Aber ihre Botschaft ist schon so leise und so fern, dass sie uns nicht mehr erreicht. Und irgendwann halten wir die Tatsache, überhaupt eine innere Stimme zu hören, sowieso für äußerst ungesund, woraufhin diese dann schweigt.

So genießen wir unser Leben in vollen Zügen, um bloß nichts zu verpassen. Der einzige Zug aber, den wir nicht hätten verpassen sollen, fährt ohne uns davon. Die Erinnerung an unseren Auftrag hat sich irgendwo in den hintersten Windungen unseres Gehirns vergraben; wir haben uns an die Welt und damit uns selbst verloren… Irgendwann – Jahre, Jahrzehnte später – findet man uns entschlafen in unserem Bett im Hotel und in der Hosentasche einen kleinen glänzenden Schlüssel, von dem niemand weiß, wofür er war. Wir haben unsere Chance zum Erwachen, zumindest für dieses Leben, vertan. – Wie schade um die schöne Reise!